S3 Leitlinie Nierenzellkarzinom 2015

Kapitel 9: Neoadjuvante und adjuvante Therapie

Autor: |Veröffentlicht am 27. September 2016|Aktualisiert am 21. März 2024

 Neoadjuvante Therapie

9.1 Konsensbasierte Empfehlung
EK  In der nicht-metastasierten Situation soll vor Primärtumorresektion keine neoadjuvante Therapie durchgeführt werden.

Starker Konsens

9.2 Evidenzbasiertes Statement

Level of Evidence
2+

Der Effekt einer neoadjuvanten Therapie auf die Volumenreduktion des Primärtumors oder eines Cavathrombus ist klinisch nicht relevant. 

Literatur: [456-460]: LoE 3

Literatur: [461]: LoE 2+

Literatur: [362-364, 462. 463]: LoE 2-

Konsens

9.3 Evidenzbasierte Empfehlung
Empfehlungsgrad

A

Level of Evidence
2+

 Eine neoadjuvante Therapie soll nur im Rahmen von Studien durchgeführt werden.

Literatur: [464-467]

starker Konsens


Hintergrund

Als Rationale für eine neoadjuvante Therapie bei nichtmetastasierter Situation werden folgende Faktoren angeführt:
• eine mögliche Volumenreduktion eines großen Primärtumors, um diesen operabel zu machen bzw. ein organerhaltendes Vorgehen zu ermöglichen, wenn dies notwendig ist [456-458, 468]
• die Therapie möglicher Mikrometastasen bzw. zirkulierender Tumorzellen [469]

Zudem wird eine Systemtherapie präoperativ zumeist besser toleriert als postoperativ im adjuvanten Setting. Das Therapieintervall wird in der Regel kürzer gewählt, eine Einschränkung der Nierenfunktion durch eine stattgehabte Operation an der betroffe-nen Niere besteht noch nicht.
Von Nachteil kann sein, dass es durch die neoadjuvante Therapie zu einer Verzögerung der Operation des Primärtumors kommt, wenn dieser bereits komplett resektabel ist und die Hauptintention der neoadjuvanten Therapie eher die Verhinderung eines frühen Rezidivs bei hohem Risikoprofil ist. Möglicherweise kann ein bestimmter Anteil an Patienten der Operation nicht mehr zugeführt werden aufgrund von Toxizität oder Progress unter der Systemtherapie. Zudem kann die medikamentöse Therapie zu er-höhten peri-/postoperativen Komplikationen wie Wundheilungsstörungen, Blutungs-neigung, Thromboembolien führen. Dies kann letztendlich auch eine erhöhte Mortalitätsrate bedingen [467].

Bisher gibt es keine publizierten Phase-III-Studien zur neoadjuvanten Therapie. Die meisten Phase-II-Studien betreffen eine neoadjuvante zielgerichtete Therapie. Studien während der Zytokin-Ära zeigten enttäuschende Ergebnisse aufgrund der geringen An-sprechraten und signifikant erhöhten Toxizität, insbesondere Interleukin-2 betreffend [459, 460]. In einer kontrollierten, aber nicht randomisierten Phase-II-Studie zu subkutan appliziertem Interleukin-2 vor Nephrektomie konnte das tumorspezifische und progressionsfreie Überleben verbessert werden. Dies ist aber bis heute nicht in einer Phase-III-Studie validiert [461]. Kritisch anzumerken ist, dass viele dieser Studien auch Patienten mit metastasiertem Tumorstadium beinhalten.

Die Sicherheitsaspekte während und nach einer neoadjuvanten Therapie und deren Auswirkung auf die Operation waren ein Hauptbestandteil von verschiedenen retro-spektiven Untersuchungen. Nach neoadjuvanter Therapie mit Sunitinib betrug die Komplikationsrate bezüglich der Tumorwunde (Serom, Bauchwandhernie etc.) 11 % ohne höhergradige Komplikationen [456, 468]. Eine größere retrospektive Fallserie von 70 Patienten publizierten Chapin et al. 2011 mit besonderem Augenmerk auf die postoperativen Komplikationen nach neoadjuvanter zielgerichteter Therapie im Vergleich zu Patienten (n=103), die primär nephrektomiert worden waren [470]. Von immerhin 64 % der Patienten mit Komplikationen waren dies hauptsächlich oberflächliche Wund-dehiszenzen (24,3 % vs. 5,8 %; p < 0,001) und Wundinfektionen (12,9 % vs. 2,9 %; p=0,015). Es gab jedoch keine signifikanten Unterschiede bei der faszialen Dehiszenz, allgemeinen und schweren Komplikationen. Insgesamt war jedoch die Rate an späten chirurgischen Komplikationen im neoadjuvanten Arm deutlich höher mit 15,9 % vs. 3,8 % (p=0,002) und vielfältiger mit mehr als einer Komplikation bei 76,1 % vs. 50,9 % der Patienten (p=0,013).

Fünf prospektive Phase-II-Studien mit einer neoadjuvanten Target-Therapie seien etwas näher aufgeführt:

50 Patienten mit einem metastasierten Nierenzellkarzinom und einem resektablen Primarius in situ erhielten neoadjuvant Bevacizumab (n=27) oder Bevacizumab + Erlotinib (n=23) über 8 Wochen. Ein Ansprechen > 10 % (keine PR! [partielle Remission]) des Primärtumors fand sich bei 23 % der Patienten. 12 % der Primärtumoren waren progredient. 42 Patienten (84 %) konnten nephrektomiert werden. Das mediane progressionsfreie Überleben betrug 11 Monate, das Gesamtüberleben 25,4 Monate. Eine verzögerte Wundheilung nach Nephrektomie trat bei 31 % der Fälle auf, was signifikant häufiger ist verglichen mit einer historischen Kontrollgruppe mit 2 % (p < 0,001) [364].

28 Patienten mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Nierenzellkarzinom wurden neoadjuvant mit Sorafenib (2 x 400 mg) behandelt (mediane Behandlungsdauer fünf Wochen). Die Größenreduktion des Primärtumors lag im Median bei 10 %. Zwei Patienten hatten eine partielle Remission, 26 eine Stabilisierung der Erkrankung, keiner einen Progress. Bei vier Patienten kam es zu einem Downstaging von T2 zu T1. Bei zwei Patienten mit einem Tumorthrombus war dieser nach neoadjuvanter Therapie nicht mehr vorhanden. Wundheilungsstörungen traten in einem Fall auf, ein Patient erlitt einen Herzinfarkt [362].

20 Patienten mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Nierenzellkarzinom erhielten kontinuierlich über 3 Monate Sunitinib (37,5 mg). Bei 85 % der Patienten war eine Größenreduktion des Primärtumors im Mittel von 12 % zu verzeichnen (1PR, kein PD [progressive disease]). Komplikationen im Rahmen der Nephrektomie wurden nicht beschrieben [363].

Eine Auswertung zweier Phase-II-Studien mit 45 intermediate prognosis- und 21 poor prognosis-Patienten (MSKCC-Score) ergab nach neoadjuvanter Gabe von 2-3 Zyklen Sunitinib (50 mg, 4 + 2-Schema) eine mediane Größenabnahme des Primärtumors von 13 % (4 PR). Eine Nephrektomie konnte bei 47 Patienten (71 %) durchgeführt werden. 18 % der Patienten waren während der neoadjuvanten Phase progredient, bei weiteren 36 % kam es während des therapiefreien perioperativen Intervalls zum Progress. Das progressionsfreie Überleben betrug 6,3 Monate, das Gesamtüberleben 15,2 Monate, getrennt für intermediate prognosis und poor prognosis 26 vs. 9 Monate (p < 0,01) Perioperative Komplikationen traten in 26 % der Fälle auf, davon handelte es sich in 13 % um Wundheilungsstörungen [462].

Eine Phase-II-Studie mit 102 Patienten (78 % intermediate prognosis und 22 % poor prognosis, Primärtumor in situ) untersuchte den neoadjuvanten Einsatz von Pazopanib (800 mg). Der Primärtumor zeigte in 14 % eine PR, in 69 % ein SD (stable disease) so-wie in 16 % ein PD. 66 % der Patienten wurden nephrektomiert. Das progressionsfreie Überleben betrug 9 Monate, das Gesamtüberleben 22,5 Monate, wobei signifikante Unterschiede zwischen intermediate prognosis- und poor prognosis-Patienten bestan-den [463].

Fasst man die Ergebnisse dieser prospektiven Phase-II-Studien zusammen, so ergab sich eine Größenreduktion bei 23-85 % der Primärtumore, die Größenreduktion war jedoch mit 10-13 % gering. Die Rate an partiellen Remissionen lag entsprechend nur zwischen 0 % und 14 %. Progressionen während der neoadjuvanten Therapie traten in bis zu 18 % der Fälle auf. Drei Studien gaben die tatsächlichen Nephrektomieraten mit 66-84 % an. Die Rate an Wundheilungsstörungen lag zwischen 13 % und 31 %.
Die Dauer der neoadjuvanten Therapie betrug in den Studien 8-12 Wochen.

Aktuell laufen zahlreiche weitere Studien zum neoadjuvanten Einsatz einer Target-Therapie, wobei es sich durchweg um Phase II-Studien handelt.

Adjuvante Therapie

9.4 Evidenzbasierte Empfehlung
Empfehlungsgrad

A

Level of Evidence
1++

 Eine adjuvante Immuntherapie oder Vakzinierungstherapie soll nicht durchgeführt werden.

Literatur: [471-480]

Konsens

9.5 Evidenzbasierte Empfehlung
Empfehlungsgrad

A

Level of Evidence
4

 Eine adjuvante Therapie mit Target-Therapie (Multikinase-Inhibitoren, mTOR-Inhibitoren) soll nur in Studien durchgeführt werden.

Literatur: [464-466, 480]

Starker Konsens


Hintergrund

Rationale für eine adjuvante Therapie ist eine Unterstützung des Behandlungserfolgs der Operation des Primärtumors durch Verbesserung der Heilungsaussichten oder zu-mindest Verlängerung der Zeit bis zum Tumorrezidiv oder zur Metastasierung.

Eine Sonderform der adjuvanten Therapie stellt die Behandlung von Patienten nach radikaler operativer Resektion einer oder mehrerer Metastasen dar, durch die ein NED-Status (no evidence of disease) erreicht wird.

Eine adjuvante Therapie kann in einer lokalen Strahlentherapie oder in einer systemischen Behandlung als Immuntherapie einschließlich Vakzinierung, Hormontherapie oder Chemotherapie einschließlich zielgerichteter Therapie („targeted therapy“) oder in einer Kombination dieser Behandlungsmaßnahmen bestehen.

In einer 2011 publizierten Metaanalyse von 10 RCTs mit 2.609 Patienten ergab sich kein Vorteil für eine adjuvante Behandlung (Immuntherapie, Vakzinierung, klassische Chemotherapie, Thalidomid) bezüglich Verlängerung des DFS (disease free survival) oder OS (overall survival) im Vergleich zur unbehandelten Kontrollgruppe [480].

In der adjuvanten Situation konnte durch die Strahlentherapie in einer Metaanalyse bei 7 vor allem retrospektiven Arbeiten mit 735 Patienten zwar eine Senkung des Lokalre-zidivrisikos bei älteren Bestrahlungstechniken gezeigt werden, jedoch kein Einfluss auf das Überleben [481]. Somit besteht keine Indikation zur postoperativen Radiotherapie. Die Klärung des Stellenwerts moderner Hochpräzisionsbestrahlungstechniken in der adjuvanten Situation bleibt künftigen Studien vorbehalten.

Es gibt keine Belege für den Nutzen einer adjuvanten Immuntherapie. Weder Interferon-alpha, hochdosiertes Interleukin-2, Interleukin-2 mit CD8-positiven tumorinfiltrie-renden Lymphozyten noch eine Kombination von Interferon-alpha und Interleukin-2 al-lein oder mit Chemotherapie haben in randomisierten Phase-III-Studien zu einer Verbesserung von DFS oder OS geführt [471-476].

Es gibt keine Belege für den Nutzen einer adjuvanten Vakzinierung. Sowohl die Vakzi-nierung mit autologen bestrahlten Tumorzellen plus Bacillus Calmette-Guérin als auch mit HSPPC-96 haben in randomisierten Phase-III-Studien zu keiner Verbesserung von DFS oder OS geführt [477, 478]. Die autologe Tumorzell-Vakzinierung ergab in einer randomisierten Phase-III-Studie eine signifikante Verbesserung des 5-Jahres-DFS von 67,8 % im Placeboarm auf 77,4 % im Verumarm. Es bestanden methodische Probleme durch ein Ungleichgewicht der randomisierten Patienten, die keine Therapie erhielten (99 im Verum- und 75 im Placeboarm), was insgesamt 174/553 Patienten (32 %) der Gesamtpopulation entspricht. Außerdem war das Gesamtüberleben im Verumarm nicht signifikant verbessert [479]. Ergebnisse einer erneuten Analyse des Gesamtüberlebens mit längerer Nachbeobachtungszeit liegen nicht vor.

Es gibt keine Belege für den Nutzen einer adjuvanten Hormontherapie, z. B. mit Medroxyprogesteronacetat [482].

Da es keine klassischen zytotoxischen Substanzen mit nachgewiesener Wirksamkeit bei metastasierter Erkrankung gibt, sind die Voraussetzungen für ihre Verwendung in der adjuvanten Therapie nicht erfüllt. Erst mit der Einführung der Target-Therapie und Wirksamkeitsnachweis bei metastasierter Erkrankung hat sich die Möglichkeit für deren Einsatz im Rahmen der adjuvanten Therapie ergeben.

Es gibt gegenwärtig keine Belege für den Nutzen einer adjuvanten Target-Therapie. Sechs große randomisierte Phase-III-Studien sind derzeit noch nicht abgeschlossen und ausgewertet worden:
• Die ASSURE-Studie mit Sunitinib vs. Sorafenib vs. Placebo, ClinicalTrials.gov NCT00326898
• Die SOURCE-Studie mit Sorafenib für 1 Jahr vs. Sorafenib für 3 Jahre vs. Pla-cebo, ClinicalTrials.gov NCT00492258
• Die S-TRAC-Studie mit Sunitinib für 1 Jahr vs. Placebo, ClinicalTrials.gov NCT00375674
• Die EVEREST-Studie mit Everolimus für 1 Jahr vs. Placebo, ClinicalTrials.gov NCT01120249
• Die PROTECT-Studie mit Pazopanib für 1 Jahr vs. Placebo, ClinicalTrials.gov NCT01235962
• Die ATLAS-Studie mit Axitinib für 3 Jahre vs. Placebo, ClinicalTrials.gov NCT01599754

Zusammenfassend stellt die Leitliniengruppe zur neo-/adjuvanten Therapie des Nie-renzellkarzinoms fest, dass aufgrund der fehlenden Empfehlung weiterhin erheb¬licher Forschungsbedarf besteht, um effektivere Therapieoptionen zu entwickeln bzw. zu op-timieren. Die derzeit zur Verfügung stehenden Substanzen haben nicht das Potential, für die präoperative Therapie empfohlen zu werden. Hier bedarf es neuer Therapieansätze mit hoffentlich effektiveren Substanzen, insbesondere was die Tumorvolumenreduktion betrifft. Zudem wäre die Durchführung prospektiver, randomisierter Studien wünschenswert. In Bezug auf die adjuvante Therapie bleiben die Ergebnisse der großen Phase-III-Studien zu den zielgerichteten Substanzen abzuwarten. Sollten diese ei-nen negativen Ausgang haben, gilt auch für diesen Sektor, sich innovativen Wirkprinzipien zuzuwenden und diese in klinischen Studien zu untersuchen.