S3 Leitlinie Nierenzellkarzinom 2015

Kapitel 6: Operative Verfahren, Operationstechniken

Autor: Redaktion|Veröffentlicht am 21. September 2016|Aktualisiert am 21. März 2024

Kapitel 6.5: Bedeutung der R1-Befunde

  Evidenzbasierte Empfehlung
Empfehlungsgrad ALevel of Evidence 3Bei der Nierentumorentfernung soll eine R0-Resektion erfolgen. Literatur: [157, 210-214] Starker Konsens
  Evidenzbasiertes Statement
Level of Evidence 3Eine signifikante Beeinflussung des tumorspezifischen Überlebens durch das Vorliegen von R1-Befunden bei makroskopisch tumorfreiem Resektionsgrund ist nicht nachgewiesen. Literatur: [157, 210, 212, 214-216] Konsens
  Evidenzbasiertes Statement
Level of Evidence 3Patienten mit einem R1-Befund haben ein erhöhtes Risiko für ein Lokalrezidiv. Literatur: [211, 213, 214, 217] Konsens
  Evidenzbasierte Empfehlung
Empfehlungsgrad BLevel of Evidence 3Bei Nachweis eines R1-Befundes in der endgültigen histopathologischen Untersuchung sollte eine systematische Überwachung und keine Nachoperation erfolgen. Literatur: [210, 214, 215, 218-220] Konsens
  Evidenzbasierte Empfehlung
Empfehlungsgrad ALevel of Evidence 1+Eine systematische oder extendierte Lymphadenektomie bei der operativen Therapie des Nierenzellkarzinoms soll bei unauffälliger Bildgebung und unauffälligem intraoperativen Befund nicht erfolgen. Literatur: [208] Starker Konsens
  Evidenzbasierte Empfehlung
Empfehlungsgrad BLevel of Evidence 3Auf eine Schnellschnittuntersuchung kann bei makroskopisch unauffälligem Tumorbett verzichtet werden. Literatur: [210, 221-226] Konsens

Hintergrund

Zu der Frage der Wertigkeit bzw. therapeutischer Konsequenzen von mikroskopisch positiven Schnitträndern im endgültigen histopathologischen Präparat im Rahmen der organerhaltenden Nierentumorchirurgie gibt es keine randomisierten Studien oder systematischen Meta-Analysen. Bis heute wurden eine Reihe von meist kleinen retrospektiv evaluierten Fallserien sowie nur eine nicht systematisch durchgeführte Über-sichtsarbeit publiziert [210]. Die Nachbeobachtungszeiten betragen meist weniger als 5 Jahre.

In den letzten Jahren hat die organerhaltende Nierentumorchirurgie im Sinne einer partiellen Nephrektomie oder Nierentumorenukleation die radikale Tumornephrektomie als Standardtherapie des lokal begrenzten Nierenzellkarzinoms abgelöst [212, 227-232]. Dieser Therapiewandel basierte vornehmlich auf der Erkenntnis, dass durch die organerhaltende Chirurgie die Nierenfunktion besser erhalten und insbesondere das Risiko kardiovaskulärer Folgeerkrankungen gesenkt werden kann [144, 233-238]. Die onkologischen Ergebnisse scheinen gleichwertig, die perioperative Morbidität bei Durchführung eines nierenerhaltenden Eingriffs nur minimal erhöht [158, 229, 239-245]. Das Ziel jeder partiellen Nephrektomie muss, gleichsam wie bei der radikalen Tumornephrektomie, die komplette Resektion des Tumors sein. Es scheint inzwischen erwiesen, dass die Weite der Absetzung im Gesunden bzw. die Breite des Sicherheits-abstandes zum Tumor ohne Relevanz ist [227, 246, 247]. Die Zunahme der Durchführung partieller Nephrektomien bzw. von Tumorenukleationen hat aber auch gezeigt, dass in seltenen Fällen trotz makroskopisch intraoperativ tumorfreien Resekti-onsbettes in der endgültigen histopathologischen Beurteilung Tumorzellen im Schnittrand nachgewiesen werden können, sprich eine R1-Situation bzw. ein positiver Absetzungsrand vorliegt.

Die Inzidenz eines positiven Absetzungsrandes (PAR) im endgültigen Präparat wird für die offene Chirurgie in verschiedenen Studien mit 0-7 %, für laparoskopische und robo-terassistierte Eingriffe mit 1-4 % und 4-6 % angegeben [154, 156, 157, 204, 211, 213, 215, 244, 248-261]. Bei entsprechender Erfahrung scheinen sich also die PAR-Raten zwischen den gewählten chirurgischen Verfahren nicht signifikant zu unterscheiden [154, 156, 157, 252, 260, 262].

Daten aus kleineren Studien deuten darauf hin, dass die Tumorenukleation entlang der Pseudokapsel der klassischen Nierenteilresektion bezüglich des Auftretens von PAR überlegen sein könnte. Verze et al. verglichen retrospektiv die pathologischen Ergebnisse von n=309 partiell nephrektomierten mit n=226 tumorenukleierten Patienten, die unter einem cT1-Nierenzellkarzinom litten [263]. Die PAR-Raten lagen bei 6,7 % bzw. 1,3 % (p=0,01). Auch die multivariate Analyse zeigte ein knapp 5-fach erhöhtes Risiko für das Auftreten von R1-Befunden bei Durchführung einer klassischen partiellen Nephrektomie (p=0,04). Minervini et al. stellten die pathologischen sowie onkologi-schen Ergebnisse von n=982 partiell nephrektomierten denen von n=537 tumorenukleierten Nierenzellkarzinompatienten aus 16 Kliniken gegenüber [264]. Bei einem medianen Follow-up von etwa 4,5 Jahren unterschieden sich die 5-Jahresraten bezüglich des progressionsfreien Überlebens (88,9 vs. 91,4 %) und des tumorspezifischen Gesamt-überlebens (93,9 vs. 94,3 %) nicht signifikant voneinander, obwohl auch hier die Rate an R1-Befunden höher lag für klassisch partiell nephrektomierte Patienten (3,4 vs. 0,2 %).

Patienten mit imperativer Indikation zum nierenerhaltenden operativen Vorgehen (z. B. bei vorbestehender Niereninsuffizienz, funktioneller oder anatomischer Einzelniere) leiden im Vergleich zum Gesamtkollektiv häufiger unter größeren und ungünstiger lokalisierten Tumoren. Dies erklärt, warum in nahezu allen Studien die imperative Indikation als Risikofaktor für das Auftreten von PAR identifiziert werden konnte, zumindest unter univariater Betrachtung. Hier werden R1-Raten von 9-28 % beschrieben [212, 265-267]. Bensalah et al. identifizierten (neben der Tumorlokalisation) zusätzlich in einer multivariaten Analyse die imperative Indikation als unabhängigen Risikofaktor für das Vorliegen eines R1-Befundes im endgültigen histopathologischen Präparat (HR 14,3 [95 % CI 1,6-21,2], p=0,02) [214].

Das Auftreten von PAR, so eine Studie von Kwon et al. an 770 offen operierten Patien-ten, scheint unabhängig vom histopathologischen Subtyp und möglicherweise der Differenzierung des Nierenzellkarzinoms zu sein [213]. R1-Situationen traten bei 33/423 (8 %) aller Patienten mit Tumoren hohen malignen Potentials und 24/347 (7 %) Patienten mit gut differenzierten Tumoren auf . Im Gegensatz dazu publizierten Bensalah et al., dass PAR häufiger bei schlechter differenzierten Karzinomen aufträten [214].

Ob der Tumordurchmesser eine Rolle für das Auftreten von R1-Befunden spielt, ist noch umstritten. Während verschiedene Arbeitsgruppen keine Korrelation darstellen konnten, fanden andere höhere Raten an PAR bei eher kleineren Nierenzellkarzinomen [216, 219, 248, 255]. Yossepowitch et al. zum Beispiel zeigten in uni- wie multivariaten Analysen, dass kleine Tumore zwar auf der einen Seite häufiger mit dem Auftreten von PAR, aber gleichzeitig seltener mit lokalen Rezidiven assoziiert waren [216]. Darüber, warum R1-Raten z. T. häufiger bei kleineren Nierentumoren gefunden wurden, kann nur spekuliert werden. Mögliche Erklärungsversuche beinhalten das häufigere Fehlen einer Pseudokapsel sowie technische Unachtsamkeiten des Chirurgen bei der Resektion oder des Pathologen bei der Präparation [210]. Andererseits, so Peycelon et al., scheint die Rate an R1-Befunden bei sehr großen Tumoren (> 7 cm) auch wieder anzusteigen [212]. Ebenso publizierten Ani et al. eine höhere Inzidenzrate an R1-Befunden bei Patienten mit größeren Tumoren bzw. höherem Tumorstadium [268].

Ob die Lage des Tumors in der Niere die Rate an PAR beeinflusst, kann noch nicht endgültig geklärt werden, da keine der vorliegenden Studien reproduzierbare Ne-phrometrieverfahren inkludierte. Verfügbare Daten deuten jedoch darauf hin, dass PAR häufiger nach Resektion zentral liegender Tumore beobachtet werden [214, 258]. In der Arbeit von Bensalah et al., in welcher 111 Patienten mit PAR evaluiert wurden, traten diese bei zentral liegenden Tumoren in 26 %, bei peripheren Tumoren nur in 9,1 % aller Fälle auf (p < 0,001) [214].

Ob PAR nach partieller Nephrektomie das Risiko für ein Auftreten von Lokalrezidiven erhöhen, ist noch nicht endgültig geklärt, auch wenn die Mehrzahl der Studien darauf hindeutet [211-214, 217]. Bernhard et al. fanden in einer Gruppe von 809 partiell nephrektomierten Patienten bei einem medianen Follow-up von 27 Monaten 26 Lokal-rezidive (3,2 %) [211]. In der univariaten Analyse korrelierten ein hohes Tumorstadium (pT3a), eine Tumorgröße > 4 cm, die imperative Indikation, das Vorliegen bilateraler Tumore, eine schlechte Differenzierung (Fuhrman-Grad > 2) sowie ein R1-Befund mit dem Auftreten eines Lokalrezidivs. Das Vorliegen eines bilateralen Tumorleidens (HR 6,3), ein Tumordurchmesser > 4 cm (HR 4,6) sowie vor allem ein R1-Befund (HR 11,5) erwiesen sich auch in der multivariaten Analyse als unabhängige Prädiktoren für das Auftreten eines ipsilateralen Rezidivs. Khalifeh et al. beschrieben nach Auswertung von 943 roboterassistiert operierten Patienten mit einer PAR-Rate von 2,2 % ein sogar 18,4-fach erhöhtes Risiko für das Auftreten von Tumorrezidiven [217]. Kwon et al. zeigten, dass Lokalrezidive in ihrem Patientenkollektiv (n=770, PAR-Rate 7 %) nur bei Tumoren mit höherem Malignitätsgrad auftraten [213].

Bensalah et al. evaluierten 111 Patienten mit PAR aus verschiedenen Zentren und konnten eine Korrelation zwischen dem Vorliegen eines R1-Befundes und dem Auftre-ten von Tumorrezidiven herstellen [214]. Auch die Zeit bis zum Eintreten eines Pro-gresses war kürzer in der Gruppe mit PAR (21,4 vs. 24,7 Monate). In einer anschlie-ßend durchgeführten matched-pair-Analyse (n=101 Patienten mit und n=102 Patienten ohne PAR) zeigte sich jedoch kein signifikanter Unterschied mehr im rezidivfreien Überleben (p=0,11) oder tumorspezifischen Gesamtüberleben (p=0,4). In der multiva-riaten Analyse erwiesen sich die imperative Indikation zur Nierenteilresektion (HR 14,3 [95 % CI 1,6-21,2]) und die zentrale Tumorlokalisation (HR 1,2 [95 % CI 1,06-1,8]) als unabhängige Risikofaktoren für das Auftreten eines Tumorrezidivs, nicht aber das Vorliegen eines R1-Befundes [214].

Eine weitere große Studie wurde von Yossepowitch et al. publiziert [216]. 77/1344 Patienten (5,7 %) zeigten einen R1-Befund, die mediane Nachbeobachtungszeit betrug 3,4 Jahre. Auch in dieser Studie unterschied sich das Risiko für ein Lokalrezidiv nicht zwischen Patienten mit und ohne PAR: Die 5-Jahre-Lokalrezidiv-Freiheit betrug 98 % bzw. 97 % (p=0,97). In der multivariaten Analyse zeigte sich im Gegensatz zur Tumorgröße das Vorliegen eines PAR nicht als Risikofaktor für das Auftreten eines Lokalre-zidivs (HR 1,0 [95 % CI 0,23-4,3]) oder einer metachronen Metastasierung (HR 1,6 [95 % CI 0,6-4,1]).

Ebenso identifizierten Marszalek et al. bei einem medianen Follow-up von 70,7 Monaten im Gegensatz zur Tumorgröße und Differenzierung den Faktor PAR nicht als Prädiktor für das Auftreten eines Nierenzellkarzinomrezidivs bzw. für das Gesamtüberleben [157].

Kürzlich publizierten Ani et al. eine große Studie, in welche 664 kanadische Patienten retrospektiv eingeschlossen wurden, von denen 71 (10,7 %) einen R1-Status aufwiesen (Follow-up 7,9 Jahre) [268]. Hier lag die tumorspezifische 5-Jahres-Überlebensrate bei 90,9 % bzw. 91,9 % für Patienten mit bzw. ohne PAR (p=0,58). Auch in der multivariaten Analyse erwies sich der R1-Status nicht als unabhängiger Prädiktor für das krebs-spezifische Überleben (HR 1,1 [95 % CI 0,66-1,94]).

Das tumorspezifische Überleben scheint also durch das Vorliegen eines R1-Befundes bei intraoperativ makroskopisch freiem Tumorbett nicht signifikant beeinflusst zu werden [157, 210, 212, 214-216, 268]. Und auch weil bei Durchführung einer prophylaktischen sekundären Nephrektomie im Fall eines PAR im endgültigen Präparat nur in 0-39 % noch Tumor in der Restniere gefunden wurde, wird im Fall eines mikroskopi-schen R1-Befundes in der endgültigen histopathologischen Untersuchung die systematische Überwachung und nicht mehr die Nachoperation empfohlen [210, 214, 215, 218-220].