Autor: |Veröffentlicht am 31. März 2021|Aktualisiert am 21. März 2024

Wie gut kennen Sie die Geschichte Ihres Faches?

Eine Zeitreise durch das einzigartige Museum der Urologie in Berlin

31.03.2021. Große Instrumente zur Entfernung von Harnsteinen, historische Schriften oder ein 28.000 Jahre altes Phallus-Idol: Museum, Bibliothek und Archiv im Haus der Urologie in Berlin-Zehlendorf zeigen seltene Schätze und Kuriosa aus der Geschichte und Kultur der Urologie. PD. Dr. Friedrich Moll, Kurator des Museums der Deutschen Gesellschaft für Urologie e.V., gibt ungewöhnliche Einblicke rund um die wissenschaftliche Ausstellung.

1. Herr PD Dr. Moll, die Behandlung urologischer Erkrankungen zählt zu den ältesten ärztlichen Tätigkeiten: Seit wann werden Blasenleiden, Nierensteine und Co. behandelt?

Die Dokumentation von Erkrankungen im Uro-Genitalbereich und deren Behandlung lässt sich weit zurückverfolgen, wenn auch manchmal eine retrospektive Diagnose anhand von Schriften oder Bildquellen schwierig ist. Fest steht, Harnsteine und auch die Beschneidung lassen sich bereits bei ägyptischen Mumien nachweisen. Die Verabreichung von potenzfördernden Mitteln reicht noch früher bis in die Zeit der Priester-Ärzte zurück.

2. Der „goldene Strich“ oder tödliche Potenzmittel aus der gemahlenen Spanischen Fliege sind legendär: Wie gefährlich waren solche Behandlungen?

In der Tat war die Behandlung eines Wasserbruches, einer Hydrozele, nur durch Punktion möglich, die jedoch entfernt vom Hoden gesetzt werden musste und damit schon eine gute Fingerfertigkeit, gerade in der voranästhetischen Zeit voraussetzte.

 „Spanische Fliegen“, Canthariden der Gattung Lytta vesicatoria, waren bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gängige Aphrodisiaka, die in Apotheken angeboten wurden. Sie sind ein starkes Reiz- und Nervengift, wodurch es als Wehrsekret in der Tierwelt sehr effektiv ist. Auf der Haut und vor allem auf den Schleimhäuten des Menschen übt es eine starke Reizwirkung aus. Beim Menschen und bei anderen Wirbeltieren löst das enthaltende Gift die Bildung von Blasen und teilweise tiefen Hautwunden aus. Außerdem führt es zu Entzündungen und insbesondere zu einer starken Schädigung der Nieren. Letztere tritt vor allem bei Missbrauch, etwa bei übermäßiger Einnahme als Aphrodisiakum, auf. Gerade, da es sich um ein Naturprodukt handelt, war eine Dosierung immer schwierig. Heute kann die Urologie ihren Patienten deutlich sicherer zu dosierende Medikamente anbieten, deren Einführung vor über 20 Jahren auch schon zur Geschichte gerinnt.

3. Und bis wann wurde der sogenannte Impotenz-Gürtel eingesetzt?

Die „Impotenz–Gürtel“ oder „Heidelberg Belts“ gehören zu den besonders in den USA stark nachgefragten „Universalheilmitteln“ bei sexueller Neurasthenie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Neurasthenie war eine „Modediagnose“ am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nachdem man die Nervenleitung als elektrische Impulse beschrieben hatte und man sich durch Elektrizität in diesem Organbereich eine besondere Therapiemöglichkeit erhoffte. Da dieser Erkrankungskomplex auch mit männlichem „Unvermögen“ assoziiert wurde, erhoffte man sich hier eine moderne Therapieform. Die Diagnose „sexuelle Neurasthenie“ bot darüber hinaus zu Zeiten einer doch prüden Gesellschaft die Möglichkeit, über Sexualität, Liebe und Ehe überhaupt zu sprechen und fachlichen Rat einzuholen. Die mannigfachen von Laien, Medizinern und Urologen verfassten „Aufklärungsschriften“ veranschaulichen die riesige Breite dieses Gebietes bis in die 1920er Jahre.

4.Neben einem Schatz aus tausenden Publikationen, zahlreichen Original-Lithografien und Dokumenten zeigt die Sammlung des Museums rund 1500 historische Instrumente, lässt in eine urologische Praxis aus der Mitte des letzten Jahrhunderts blicken und liefert zweifellos ein starkes Plädoyer für die urologische Gegenwart: Welches sind die wichtigsten Exponate aus medizin-historischer Sicht?

Eine einfache und zugleich schwierige Frage für den Museumsfachmann, da ja alle Objekte eine eigene Geschichte erzählen, sei es ein Steinschnitt-Besteck, das ein bayrischer Urologen seinerzeit wegen seiner Verdienste und langjährigen Tätigkeit vom Bayrischen Prinzregenten erhielt und das die Bedeutung und das Ansehen des sich gerade entwickelnden „neuen“ Arztspezialberufes unterstreicht. Aus Sicht der medizinischen Fachgesellschaft sind es wenige, optisch spektakuläre Schriftstücke, die die Gründung im Jahre 1907 dem „Preußischen Minister der Geistlichen-Kultus und Medizinalangelegenheiten“ anzeigen. Für den Besucher besonders beeindruckend ist sicherlich das große Set zur „blinden“ – modern ausgedrückt – „minimal invasiven Behandlung von Blasensteinen“, das von einem zu seiner Zeit sehr bekannten Pariser Instrumentenmacher um 1830 angefertigt wurde. Für den Wissenschaftshistoriker sind es u. a. unsere exquisiten Stiche, die einen Querschnitt aus mehreren Jahrhunderten der Fachentwicklung dokumentieren und die Sicht auf die Erkrankung und den Patienten visualisieren. Im Archiv sind es die eher unscheinbaren Aktenkonvolute, die urologischen Alltag auf vielfältigen Ebenen beschreiben.

Bei dieser Frage können bei der Planung von Ausstellungen auch einmal die Ansichten von Kurator und Kustos auseinandergehen. Während der Kurator eher die fachkonstituierenden Artefakte fokussiert, sind unter kustodialen Gesichtspunkten häufig die kleineren, unscheinbareren Objekte im Mittelpunkt, da diese oft starke, spannende Geschichte von Urologen als Sammlern oder Patientengeschichten multidimensional erzählen.

5. Welches sind die skurrilsten Ausstellungsstücke?

Was uns heute als sonderbar oder verschroben erscheint, war häufig unter anderen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen und kulturellen Vorzeichen gängig, häufig und populär. Wir sollten daher vorsichtig sein, mit unserem heutigen Blick historische Diagnosen und Behandlungen zu interpretieren, denn das hieße immer einen anderen Betrachtungshorizont einzunehmen.

Betrachtet man Artefakte unter dem Aspekt der Besonderheit oder Einzigartigkeit sind es nach meiner Überzeugung die römischen Spintriae/tesserae, die zurzeit vor allem als Spiel- und als Bordellmarken gedeutet werden und unseren modernen Jetons entsprechen dürften. Kontinuitäten seit mehr als 2000 Jahren!

6. Wie reagieren die Besucher auf die historischen Gerätschaften?

 Vielen Dank für diese Frage, denn hier müssen eindeutig zwei Besuchergruppen unterschieden werden. Fachbesucher kennen vom Prinzip die meisten Instrumente von ihrer aktuellen Tätigkeit und sind eher verwundert, dass an vielen Prinzipien wenig geändert wurde. Wollen sie dann ein Instrument ausprobieren, was möglich ist, sind sie bei Zystoskopen verwundert, dass das Bild so lichtschwach ist und auf dem Kopf und spiegelverkehrt erscheint. Sie müssen das „Sehen“ neu lernen. Auch jahrzehntelang trainierte Urologen haben dann wieder eine Lernkurve wie die Studenten in unserem Düsseldorfer Seminar „Op trifft Museum“, das Medizinstudenten ermöglicht, neben dem Erlernen wissenschaftlicher Techniken mit alten und neuen Zystoskopen am selbst gebauten Phantom zu untersuchen, was das klinischen Praktikum mit Tastkurs nicht bietet.

Interessierte Besucher ohne urologischen Hintergrund sind häufig aufgrund der Instrumentenform beunruhigt und antizipieren eine schmerzhafte Untersuchung, die es heute nicht gibt. Hier dient das Museum als Mittler zur aktuellen Urologie, der ansprechend „verpackte“ Fachinformationen zu Themen liefert, die viele auch heute nicht öffentlich fragen würden. Reaktionen liegen somit immer im Auge des Betrachters.

7. Haben Harnsteine tatsächlich den Lauf der Geschichte beeinflusst und Napoleons Erkrankungen Schlachten entschieden?

Dies kann man eindeutig mit Ja beantworten, wobei dieser Aspekt gerade von französischen Historikern gerne bei Napoleon III bemüht wird. Napoleon III litt an einem Blasenstein und hier ist eine retrospektive Diagnose ausnahmsweise möglich, da die Steine noch heute in London archiviert sind. Der Herrscher verlor eine wichtige Schlacht, da der Einsatzbefehl zu spät gegeben wurde. Dies ermöglichte jeweils der preußischen Armee einen gewissen Vorsprung in der Schlachtaufstellung, was französische Historiker den Fieberschüben des Herrschers bei der Schlacht zuschrieben. Wie man aber weiß, führt ein Detail allein sicherlich nicht zu Sieg oder Niederlage bei einer Schlacht. Das Narrativ wird aber bis heute gerne in der national geprägten Literatur genutzt. Man sollte die Geschichte eher fachpolitisch erzählen. Obwohl Frankreich zu den frühen führenden Ländern mit einer sich spezialisierenden Urologie gehörte, wurde der Kaiser in diesem Bereich eher unterversorgt, was sicherlich suboptimal war und nicht den fachlichen Möglichkeiten zu seiner Zeit entsprach. Paris war im 19. Jahrhundert ein Mekka zur Weiterbildung in der Spezialität Urologie. Der Franzose Napoleon III wurde im Exil in England von einem Briten operiert. Nationale Gegensätze prägten die Politik im 19. Jahrhundert wesentlich.

8. Gibt es weitere berühmte urologische Patienten in der Vergangenheit?

Dies ist immer wieder ein Thema von Vorträgen, wobei, wie schon erwähnt, häufig eine retrospektive Diagnose schwierig und allenfalls bei Harnsteinpatienten wie Martin Luther oder auch Ava Gardner und u.a. Jeff Bezos gesichert ist. Im Internet findet sich eine Wikipedia Liste „List of people with kidney stones“ aus allen Gesellschaftsbereichen. In früheren Zeiten konnten sich nur begüterte Menschen Fleisch und Wildbret leisten, deren Erkrankungen bis zu den ausgeschiedenen Nierensteinen dann auch gut dokumentiert wurden. Das erkrankte Messnerkind Zuttel, dessen Blasenstein von Lorenz Heister behandelt wurde und worüber eine Korrespondenz mit dem Vater existiert, aus der wir einen guten Einblick in das Patientenschicksal erhalten haben, findet sich in solchen Listen nicht. Auch die Anamnese von Politikern mit prostatischen Beschwerden, die einen harten Wahlkampf nur mit Katheter durchstehen konnten und sich währenddessen nicht operieren lassen konnten oder wollten, faszinieren zwar ein allgemeines Publikum, sind aber eher ein Beispiel, wie eine Behandlung eher suboptimal abläuft. Werden Politiker dann initial an der falschen Seite bei renalen Erkrankungen operiert oder leiden gar an Prostatakarzinomen besitzen diese Fakten zwar einen gewissen Unterhaltungswert für die Boulevardpresse, sollten aber doch eher unter die ärztliche Schweigepflicht fallen.

9. Einst Harnbeschauer und Steinschneider, heute Fachärzte für Urologie, die KI und OP-Roboter nutzen: Welches sind die wichtigsten medizinischen Fortschritte und Errungenschaften auf dieser Zeitreise?

Es fällt mir schwer, die Entwicklung als Fortschrittsgeschichte zu beschreiben, wie es „Old School“-Medizinhistoriker und manche Urologen in Handbuchbeiträgen häufig bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts taten. Diese Sichtweise ist heute verlassen und gilt als unwissenschaftlich.

Urologen und Proto-Urologen haben sich früh auf ausgesuchte, mit dem Harntrakt verbundene Erkrankungen spezialisiert und damit die Brücke von der handwerklichen zur naturwissenschaftlichen Ausbildung schlagen können. Bereits die alten Medizinalordnungen deutscher Fürstentümer erwähnten und regelten Steinschneider bzw. „Lithotomisten“ in ihrer Berufsausübung und auch Liquidation separat. Dr. Eisenbarth oder Frère Jacques sind gerade aufgrund ihrer für ihren Zeitraum niedrigen Operationsletalität in der allgemeinen Erinnerungskultur erhalten geblieben, auch wenn sie im 19. Jahrhundert teils als ungebildet und roh beschrieben wurden. Urologen haben ein minimal invasives Vorgehen schon sehr früh im 19. Jahrhundert favorisiert, da sie hiermit deutlich messbare und statistisch auswertbare Überlebensvorteile bei ihren Eingriffen besaßen. Durch die Beschränkung auf ein Organsystem konnten Urologen, wie schon ausgeführt, viel früher als andere medizinische Fachgebiete ein funktionelles Denken in ihrem Wissenschaftsbereich einführen, was ihnen ein besseres Verständnis von Zusammenhängen von Körperfunktionen ermöglichte. Aufgrund ihrer Interdisziplinarität, das Fachgebiet speiste sich aus offen-operativ am Harntrakt Interessierten, Endoskopikern, Sexualmedizinern, Dermatologen, an den allgemeinen Nierenerkrankungen Interessierten und dem weiblichen Harntrakt Interessierten, konnte sich eine Fachdisziplin entwickeln, die auch heute zu besonders vielen Bereichen der medizinischen Wissenschaften anschlussfähig ist und neue Forschungsfragen generieren kann. Somit wurde das, was Sie als Fortschritt bezeichnen in jeder Generation neu generiert und fortgeschrieben.

10. Die Anfänge der heutigen Sammlung lagen in den 1960er Jahren in Berlin, es folgte Düren, dann der Museumsstandort in Düsseldorf und schließlich 2019 Berlin: „Museum, Bibliothek und Archiv zur Geschichte der Urologie“ haben ihre eigene Geschichte und in der Deutschen Gesellschaft für Urologie e.V. eine wichtige wissenschaftliche Funktion. Welche Aufgaben sind das?

Sammeln, Bewahren, Forschen sind die Hauptaufgaben jedes Museums und natürlich auch unserer Einrichtung. Die Unterhaltung von Museum, Bibliothek und Archiv sind ein Alleinstellungsmerkmal der wissenschaftlichen Fachgesellschaft, nur wenige wissenschaftliche Fachgesellschaften unterhalten ein Museum, eine Bibliothek und ein Archiv in diesem Rahmen. Dies kann als ein wesentliches Exzellenzkriterium gewertet werden. Die Deutsche Gesellschaft für Urologie e.V. trägt dem mit den Positionen Kurator und Kustos sowie Archivar besondere Rechnung, die eine wissenschaftliche und technische Betreuung dieser einmaligen wissenschaftshistorischen Sammlung ermöglichen und fortschreiben.

11. Auch mit der Präsentation thematischer historischer Ausstellungen auf den Jahrestagungen der DGU hält die Fachgesellschaft die Geschichte der Urologie lebendig: Was ist für den 73. Kongress im September 2021 in Stuttgart geplant?

Nachdem die wissenschaftshistorische Ausstellung 2020 dem Publikum leider „nur“ virtuell präsentiert werden konnte, hoffen wir 2021 in Stuttgart wieder „live“ dabei sein zu können und entsprechend dem Kongress-Motto eUrologie und dem Kongress-Standort Stuttgart unseren Besuchern, Freunden und Förderern eine Kollektion von Objekten zur Entwicklung der süddeutschen Urologie sowie zur Wissenskommunikation zu präsentieren. Weiterhin wollen wir auf unsere Spender blicken, die uns Material in vielfältiger Form von Akten bis Filmen, von Instrumenten bis Ephemera dankenswerter Weise überlassen haben. Denn ohne unsere Spender wäre dies alles nicht möglich geworden.

12.Wer besucht das Berliner Urologie-Museum? Ärzte, Studenten, Schülergruppen, das breite Publikum? Gibt es spezielle Kooperationen - auch die Urologie braucht schließlich Nachwuchskräfte?

Wir haben Besucher aus allen angesprochenen Kreisen. Es gibt Kooperationen zu Ausbildungseinrichtungen für den technischen Nachwuchs bei der Charité. In unserem Studentenkurs in Düsseldorf, am Ort der Düsseldorfer Geschäftsstelle und des Depots an der Uerdinger Strasse, sind wir somit am Puls des ärztlichen Nachwuchses.

13. Wie groß ist das Interesse am heutigen Museums-Standort in Berlin, und was erwartet die Besucher? Infos über den Knopf im Ohr, oder eine persönliche Führung?

Wegen des coronabedingten Lockdowns können leider schon länger keine Führungen mehr stattfinden. Es ist bei der derzeitigen Dynamik sowohl seitens des Infektionsgeschehens als auch der verhängten Maßnahmen auch nicht absehbar, wann sich dieses verlässlich wieder ändert. Deshalb müssen wir Interessierte aktuell vertrösten und können sie lediglich auf einer Warteliste registrieren. Dafür bitten wir um Verständnis. Anmeldungen sind unter der Telefonnummer 030/88 70 83 3-0 oder per E-Mail an info(at)dgu.de oder an keyn(at)dgu.de möglich. Wenn sich die Situation geändert hat, werden sowohl Kustos Jörg-Michael Moll-Keyn als auch ich als Kurator die persönlichen Museumsführungen wieder aufnehmen und die Geschichten hinter den Exponaten wie bisher besucherorientiert erzählen. Mittelfristig ist zudem die Anschaffung eines Audioguides geplant, um das Angebot für unsere Besucher weiter zu verbessern.

Das Interview führte die DGU-Pressestelle

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