Die DGU-Kolumne 9/2019

Die neue DGU-Kolumne

Schwarz-weiß trifft es selten, in der Regel braucht es eine differenzierte Meinung, gerne auch eine Prise Humor und manchmal muss der Daumen in die Wunde – auch in der Urologie. Deshalb spitzt Dr. Wolfgang Bühmann in der „DGU-Uro-Kolumne“ neuerdings den Stift und nimmt in dieser neuen Rubrik des Urologenportals regelmäßig aktuelle Themen ins Visier.

Kontakt zum Autor

Dr. med. Wolfgang Bühmann
Facharzt für Urologie - Andrologie
Med.Tumortherapie - Qualitätsmanagement

Terpstig 55, 25980 Sylt OT Morsum
Tel.: 04651-8364818, Fax 04651-8364836
 E-Mail: post(at)urologie-sylt.de

Autor: |Veröffentlicht am 28. Oktober 2019|Aktualisiert am 20. September 2019

Zertifizitis - Preussens Gloria ohne ICD-Code

20.09.2019. Im Jahre 1906 drang der ostpreussische Schuhmacher Friedrich Wilhelm Voigt als Hauptmann verkleidet mit einem Trupp gutgläubiger Soldaten in das Rathaus der Stadt Cöpenick bei Berlin ein, verhaftete den Bürgermeister und raubte die Stadtkasse – eine Verzweiflungstat, um einen Ausweis zu erhalten, denn damals galt: „Keine Arbeit ohne Ausweis – kein Ausweis ohne Arbeit“. Carl Zuckmayer kreierte daraus 1930 ein beeindruckendes Sozialdrama und Heinz Rühmann brillierte 1956 absolut Oscar-reif in dem Schwarz-Weiss-Film „Der Hauptmann von Köpenick“.

Ja, und ? Heute ist alles wieder – oder immer noch – da. Der exzessive Verwaltungswahn des preussischen Kaiserreiches hat ohne Blessuren
überlebt und sich destruierend, infiltrierend und metastasierend potenziert; damit erfüllt er alle Kriterien einer bösartigen Erkrankung.

Nicht einmal eine nicht EU-krümmungsnormierte Banane darf ich erwerben, ein wohlschmeckender, tiefnatürlichroter Altländer Apfel mit einem fröhlichen, wohlgenährten Wurm gilt schon als potentiell lebensgefährlich und wird von „Verbraucherschützern“ gnadenlos aus dem Konsum verbannt; favorisiert wird dagegen das tiefgekühlte, blasse, aromafreie Pendant aus Neuseeland, das mit einer immensen Energieverschwendung und tonnenweiser CO2-Luftverpestung rund um die Welt geschippert wird, um dann keimfrei in Hochglanzfolie zertifiziert dem Obstfan entgegenzuleuchten.

Keine Sorge, der Bogen in die Urologie ist schon gespannt: zwischen 1967 und 1997 entsprangen allein aus einer urologischen Universitätsklinik in Rheinland-Pfalz  mehr als 50 Ordinarien und Chefärzte. Weder die Klinik, deren Chef noch die zahlreichen SchülerInnen waren irgendwie zertifiziert. Wie konnte das geschehen ? Gänzlich ohne Gütesiegel oder gar die mittlerweile rund ein Dutzend Zusatzbezeichnungen, die jede Visitenkarte sprengen, machte die deutsche Urologie einen Qualitätssprung – allein durch persönlichen Anspruch, Ambition, Elan und gute Weiterbildung. Pars pro toto – um urologischen Sozialneid zu vermeiden: das gilt selbstredend ebenso für andere renommierte Weiterbildungskliniken.

Kaum jemand wird die Gründe  exakt analysieren können: wie Phoenix aus der Asche gründeten sich plötzlich ohne Not zwei Zirkel, die ohne jeden Kompetenznachweis selbstherrlich behaupteten, sie könnten die Qualität ihrer Kollegen bewerten und dürften ihnen nach Erfüllung irrationaler, willkürlicher Kriterien eine Medaille umhängen. Ziel ? Natürlich Kohle und „ Macht“ für sie selbst. Heute laufen die Protagonisten ähnlich russischen Generälen frei rum, erkennbar an der BWS-Schiefhaltung durch das Gewicht ihrer Ordensspiegel.

Faktisch bedeutet das, den respektablen urologischen Lehrern der ersten und zweiten Generation retrospektiv und kollektiv ihre Kompetenz abzuerkennen, bis sie sich durch diese blödsinnige Zertifizierungs-Mühle haben drehen lassen. Und was tun die Ärzte ? Wie immer, laufen sie wie Lemminge den Zerti-Gurus nach, um möglichst viele Punkte zu sammeln. Ich weiss ziemlich genau, von wem ich mich operieren lassen würde, ohne im urologischen „Guide Michelin“ nachschlagen zu müssen - und sage genau das auch meinen Patienten. Wenn wir das alle täten, wäre dieses Buch ein Ladenhüter – inclusive der Top-Mediziner-Ranking-Listen aus Focus, Spiegel, Bunte, Gala undsoweiter.

Denken wir weiter: alle sind zertifiziert. Was nun ? Nein, wir sind deshalb noch lange nicht alle gleich gut – wir müssen uns nur andere Ideen ausdenken, um Kollegen zu diskreditieren, um Patienten zu werben oder Indikationen zu beugen, um zweifelhafte Mindestzahlen zu erreichen. Dieser schädliche Wettbewerb führt unter anderem dazu, dass Ärzte heute 20-30% ihrer wertvollen Arbeitszeit darauf verschwenden müssen, täglich die Konsistenz des Stuhlgangs zu codieren, statt diese für Zuwendung zu Patienten und eigenen Kompetenzgewinn zu nutzen.

Die Verantwortung tragen – wie immer – wir selbst. Wir machen einen Diener vor den Verwaltungs-Tyrannen und intrigieren gegen unsere Kollegen. Schnellstens  sollten  wir uns darauf besinnen,  unsere biegsame Wirbelsäule zum tragfähigen Rückgrat zu strecken und die menschenfernen, geldgierigen Ökonomen in die Wüste zu jagen. Da unsere Patienten ebenfalls zugewandte, sensible und kompetente Ärzte wollen, kann garnichts passieren – wir haben eine erdrückende Mehrheit. Was wäre geschehen, wenn sich niemand der Zertifizierung unterzogen hätte ? Nichts.

Oder glaubt etwa jemand, dass die Geschäftsführer nach einem Da-Vinci-Wochenendkurs die Mindestzahl an Prostatovesikulektomien für ihr Zertifikat selbst operiert und alle Ärzte entlassen hätten ? „Selbstbewusstsein“, „Solidarität“und „Ziviler Ungehorsam“ heissen die Eigenschaften – bedauerlicherweise gehören sie nur vereinzelt zum ärztlichen Kulturgut.

Übrigens habe ich einen Fehler in der „International Classification of Disease“(ICD), einem Orgasmus der Bürokratie, gefunden: es gibt keinen Code für die „Zertifizitis“, obwohl sie als endemisch virulente, urologische, selbst verursachte Autoimmunerkrankung längst einen verdient hätte – dafür lässt sich geschmeidig im Kapitel „Exposition gegenüber mechanischen Kräften belebter Objekte“ unter W58   das „Gebissen- oder Gestoßenwerden vom Krokodil oder Alligator“ codieren – nein, das ist eben kein Witz: Preussen‘s Gloria‘s später Triumph.

Jetzt aber „hopp“.


Herzlich

Ihr

Wolfgang Bühmann