Die Uro-Kolumne 09/2023

Autor: |Veröffentlicht am 19. Oktober 2023|Aktualisiert am 21. März 2024

Cui bono?

20.09.2023.In diesen Tagen vor 14 Jahren wurde die erste interdisziplinäre Leitlinie zum Prostatakarzinom, die älteste Leitlinie der deutschen Urologie, auf dem DGU-Kongress in Dresden der Öffentlichkeit vorgestellt. Ihr folgten Leitlinien zu allen großen Themen unseres Fachs und sie sind heute fester Bestandteil unseres urologischen Alltags.

Sie sollen systematisch entwickelte Entscheidungshilfen für uns und unsere Patienten sein, die Qualität und Transparenz unseres Handelns fördern und uns in unseren Entscheidungen unter Abwägung von Nutzen und Schaden unterstützen. Subjektiv betrachtet tuen sie uns gut, geben uns in ihrer Anwendung das Gefühl das Richtige zu tun, und vermitteln uns beim Bewegen in Ihren Grenzen fast ein wenig Geborgenheit bei den nicht immer einfachen Entscheidungen, die wir täglich zu treffen haben.
Der Nutzen für den Patienten liegt auf der Hand, kann er sich doch bei leitliniengerechter Medizin darauf verlassen, dass er in den „ besten Händen“ ist und alle aktuellen wissenschaftlichen Aspekte berücksichtigt sind – eben Diagnostik und Therapie auf Top-Niveau.
Die bittere Realität im kruden deutschen Gesundheitssystem ist leider eine andere.

Nach der Aufklärung über seinen erhöhten PSA-Wert und nicht ganz eindeutigen Tastbefund schicken wir den besorgten Patienten zum Radiologen für ein mp-MRT, dem leitliniengerechten Goldstandard in der Primärdiagnostik, um die Nebel der Unsicherheit zu zerstreuen. Die gemischte Vorfreude auf die hochwertige Diagnostik trübt sich umgehend mit der Erkenntnis ein, dass die Kosten von etwa 500 € keineswegs von seiner freundlichen kranken Kasse übernommen werden, die ihm doch immer wieder alle möglichen 4-Farb-Flyer zum Thema Gesundheit schickt. Der Grund hierfür liegt in der Formulierung der Leistungslegende für das MRT im EBM, der sich in seiner wissenschaftlichen Aktualität immer noch in der Kreidezeit befindet.
Die verständnislose telefonische Nachfrage des Patienten trifft auf einen lustlosen Kassensachbearbeiter, der dem Patienten rät, dass „der Arzt ihm doch was schreiben möge, dann sehe man weiter“.  Der Sachbearbeiter, sich der Sinnfreiheit seiner Äußerung bewusst, hätte, guten Willen, Sachverstand, einen funktionierenden Internetzugang und entsprechende Grundkenntnisse der deutschen Sprache in Wort und Schrift vorausgesetzt (leider heutzutage keine Selbstverständlichkeiten), den entscheidungsrelevanten Sachverhalt der Leitlinie entnehmen können.

Perfide wird das Ganze aber, wenn wir einen Blick in das Sozialgesetzbuch 5 werfen:
In § 2 wird gefordert, dass die Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen haben, und der medizinische Fortschritt zu berücksichtigen ist. §135 wird noch deutlicher: Die Leistungen müssen dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und in der fachlich gebotenen Qualität erbracht werden.
Klarer geht es kaum – der Patient hat nach geltender Gesetzeslage einen Anspruch auf ein mp-MRT zu Lasten der gesetzlichen Versorgung.

Denken wir die Perfidie zu Ende, dann detektiert die erste konventionelle Biopsie das aggressive Karzinom nicht und in der Re-Biopsie haben wir dann das Gleason 9 Karzinom mit ersten ossären Metastasen. In diesem Fall drängt sich der Gedanke auf, dass eine fahrlässige, infolge des Ignorierens der klaren Formulierung im SGBV, gar vorsätzliche Köperverletzung durch Unterlassen vorliegt. Eine entsprechende juristische Klärung dieses Umstands wäre spannend und erleuchtend zugleich.

Haben wir also mit der Erstellung und Fortentwicklung einer Leitlinie unseren Job bis zu Ende gebracht? Meiner Meinung nach nicht. Was bringt eine hochwertige S3-Leitlinie, wenn das kranke deutsche Gesundheitssystem ihre Umsetzung erschwert bis verhindert?
Wir Urologen haben Leitlinien nicht zum Selbstzweck oder aus wissenschaftlichen Profilneurosen heraus entwickelt und etabliert, sondern weil wir unsere gute Medizin strukturiert noch besser machen wollten und wollen und das zum Wohle des Patienten. Es ist höchste Zeit, der KBV, dem Spitzenverband der Krankenkassen und dem Bewertungsausschuss klarzumachen, dass das mp-MRT umgehend in den gesetzlichen Leistungskatalog aufgenommen werden muss. Die wesentlich bessere und frühere Detektion des häufigsten Krebses des Mannes über 60 und die Vermeidung unnötiger Prostatabiopsien sollte Argument genug sein. Wenn das den politischen Entscheidern nicht reichen sollte, sei ein Blick in die Guideline der EAU empfohlen, hier ist die Empfehlung zum präbioptischen MRT mit „strong“ gelabelt – wir wollen doch, wie immer, gute Europäer sein...
Die geschätzten Kosten für die jährliche Versorgung deutscher Männer mit einem mp-MRT würden bei ca. 50-60 Millionen Euro liegen, bei Gesamtausgaben des Systems von aktuell 289 Milliarden Euro eine Petitesse, über die man „in einem der besten Gesundheitssysteme der Welt“, um wieder einmal eine der plakativsten Lügen der Politik beim Thema Gesundheit zu zitieren, gar nicht reden müssen sollte.

Herzlichst
Holger Uhthoff