S1 Leitlinie Nicht-sichtbare Hämaturie

Autor: Armin Mainz|Veröffentlicht am 01. September 2013|Aktualisiert am 27. September 2016

Autor: Armin Mainz

Paten: Anton Beck, Til Uebel, Guido Schmiemann

Konzeption und wissenschaftliche Redaktion: M. Scherer, C. Muche-Borowski, A. Wollny

Autorisiert durch das DEGAM-Präsidium

Stand: 09/2013

Gültig bis: 09/2018

Für die Aktualisierung sind die Autoren und Paten verantwortlich.

Interessenkonflikte wurden mit dem AWMF-Formblatt eingeholt. Nach Bewertung durch ein Gremium der SLK wurden keine Interessenkonflikte festgestellt.

Definition

Zwar wird die nicht-sichtbare Hämaturie in der internationalen Literatur nicht einheitlich beschrieben, für das hausärztliche Setting gilt jedoch, dass der positive Harnstreifentest die nicht-sichtbare Hämaturie definiert. Diese Leitlinie gilt ausschließlich für erwachsene Patientinnen und Patienten ohne Beschwerden im harnableitenden System, bei denen ein Harnstreifentest auf Blut durchgeführt wurde.

Epidemiologie/Versorgungsproblem

Abhängig von unterschiedlichen Definitionen und von der Zusammensetzung der untersuchten Population liegt die Prävalenz der nicht-sichtbare Hämaturie zwischen 2,5% und 20%. Neben einigen harmlosen Ursachen einer Hämaturie muss bedacht werden, dass sich die physiologische Erythrozyturie oberhalb der in Harnstreifentest definierten Nachweisgrenzen befindet. Dadurch entstehen beim opportunistischen Screening - beispielsweise im Rahmen der zweijährlichen „Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten“ für Frauen und Männer vom 36. Lebensjahr an – weitere falsch positive Befunde mit entsprechender Über- und Fehlversorgung.

Einteilung

Die nicht-sichtbare Hämaturie beginnt, falls mehr als ca. 3000 Erythrozyten/Minute in den Primärharn ausgeschieden werden. Das entspricht mehr als 10 Erythrozyten/µl Urin. Bei üblichen Harnstreifentests liegt die untere Nachweisgrenze bei 5 intakten oder 10 hämolysierten Erythrozyten/µl Urin. Da jedoch der Stellenwert der mikroskopischen Untersuchung umstritten ist, empfiehlt diese Leitlinie, am Harnstreifen-test festzuhalten und ihn mit anamnestischen Kriterien zu verknüpfen.

Prognose/Verlauf

Nicht-sichtbare Hämaturien rechtfertigen nur im höheren Alter und/oder bei zusätzlichen Risikofaktoren eine abgestufte, standardisierte Diagnostik.

Abwendbar gefährliche Verläufe

Eine nicht-sichtbare Hämaturie kann der erste Hinweis auf Malignome im Harntrakt (vorrangig Nierenzell- und Blasen-Karzinome) sowie auf eine Glomerulopathie sein. Malignome im Harntrakt sind jährlich bei weniger als 1,5 % der Gescreenten mit einer nicht-sichtbaren Hämaturie zu erwarten; die positiven Vorhersagewerte des Harnstreifentests reichen von 0,2 bis 6,2 %

Diagnostik

Nach einer standardisierten Urinprobengewinnung und –analyse sollten bei einem erstmaligen positiven Befund die MFA bis zu zwei weitere Harnstreifentests veranlassen. Falls zwei Harnstreifentests positiv ausfallen richtet sich das weitere Vorgehen nach dem Alter. Bei unter 40-Jährigen sollte lediglich bei zusätzlicher Niereninsuffizienz (< 60 ml/min) und/oder Hypertonie (> 140/90 mm Hg) und/oder Proteinurie (> 0,5 g/d) eine Überweisung zum Fachgebiet Nephrologie erfolgen. Bei über 40-Jährigen sollte eine Nierensonographie und/oder bei Vorhandensein von mindestens einem Risikofaktor eine urologische Konsultation erwogen werden. Nach dem Ausschluss einer aktuellen Erkrankung sollte nur bei fortbestehender nicht-sichtbarer Hämaturie durch die Hausarztpraxis jährlich ein anamnestischklinischer Status mit Blutdruckmessung, eine Schätzung der glomerulären Filtrationsrate (eGFR) und ein Harnstreifentest auf Proteinurie erfolgen (modifiziertes abwartendes Offenhalten).

Therapie

Die asymptomatische, nicht-sichtbare Hämaturie erfordert nach dem Ausschluss einer Krankheit keine Behandlung. Bei spezifischen Krankheiten des Harntraktes bzw. der Nieren sollte eine Mitbetreuung durch die Fachgebiete Urologie bzw. Nephrologie erwogen werden.

Hintergrund

In deutschen Hausarztpraxen werden aufgrund der gesetzlichen Vorgaben der „Gesundheitsuntersuchung“ in großem Umfang Urinstreifentests durchgeführt (1). Dieser Test erfasst u. a. auch eine nicht-sichtbare Hämaturie bei beschwerdefreien Patientinnen und Patienten. Bei diesem Screening entstehen allerdings zahlreiche falsch-positive Befunden (2) sowie Befunde, bei denen keine abwendbar gefährlichen Verläufe vorliegen bzw. zu erwarten sind. Vorübergehende bzw. nicht-pathologische Ursachen einer Hämaturie können u. a. sein: Harnwegsinfekt, starke körperliche Belastung, Menstruation, Sexualverkehr.
Auch eine nachgelagerte qualifizierte Urin-Mikroskopie kann angesichts der Ausgangslage (Niedrig-Prävalenzbereich) keine befriedigende Nachtest-wahrscheinlichkeit erzielen. Andererseits gilt es, maligne Tumoren des Harntraktes frühzeitig zu erkennen.

Ziel

Auf der Grundlage von praxisinternen Verlaufsbeobachtungen, einer Abfrage im allgemeinmedizinischen Listserver (ein Internet-Forum für Hausarztpraxen) und einer selektiven Literaturrecherche wird eine rationale Strategie für den Umgang mit nichtsichtbarer Hämaturie bei beschwerdefreien Patientinnen und Patienten und für das Konzept des abwartenden Offenhaltens entwickelt. Ärztliche Spezialdisziplinen sollen dadurch vor einer nicht-indizierten Inanspruchnahme ihrer Leistungen geschützt werden.

Umsetzung

In einer ersten Phase wurden in der Praxis katamnestisch Patientinnen und Patienten mit einer nicht-sichtbaren Hämaturie identifiziert und deren diagnostisch-therapeutischer Verlauf erfasst.
Anschließend erfolgte eine Abfrage bei mehreren Hausarztpraxen, wie sie bei dieser Fragestellung vorgehen.
Parallel wurde in der internationalen Literatur – gezielt in Ländern mit einer gut entwickelten Allgemeinmedizin – nach Evidenz für ein rationales Vorgehen gesucht. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde ein bereits bestehendes Informationsblatt für die Urindiagnostik überarbeitet und parallel in leicht modifizierter Form auf die praxiseigene website gestellt, sowie ein Flussdiagramm als Handlungsanleitung für das Praxisteam entworfen.

Ergebnisse

Unsere praxisinterne Erhebung zeigte, dass der Urinstreifentest auf eine nicht-sichtbare Hämaturie eine schlechte Vorhersagewahrscheinlichkeit für das Vorhandensein von Nierenoder Blasentumoren aufweist. In unserer Praxiskartei konnten viele Patienten mit positivem Befund und ohne Erkrankung sowie ein Patient mit negativem Befund und einem Nierentumor identifiziert werden. Auch die von einigen Ärzten bzw. ihren medizinischen Fachangestellten geübte mikroskopische Urinsediment-Diagnostik führt nicht zu einem befriedigenden Ergebnis, da bereits die Vortestwahrscheinlichkeiten für o. g. Krankheiten sehr niedrig liegen.
Die Erkenntnisse aus Ländern mit einer gut entwickelten allgemeinmedizinischen Versorgung (siehe Literaturliste) motivierten zur Formulierung eines stufenweisen Vorgehens, welches die Reliabilität des Urinstreifentests und anamnestische Kriterien berücksichtigt.

Auswertung/Evaluation

Die Handlungsanleitung stellt klare Regeln auf. Unsicherheiten beim Vorgehen wegen einer nicht-sichtbaren Hämaturie werden verringert. Durch eine verbesserte Präanalytik und ein strukturiertes Vorgehen bei der Analytik wird das Praxisteam entlastet.

Perspektiven

Ein Screening ist nicht unumstritten. Bemängelt wird, dass beim Screening zu viele falschpositive und irrelevante Befunde erhoben werden. Unsere Handlungsanleitung für die nichtsichtbare Hämaturie im Rahmen eines Screenings soll dazu beitragen, dass dieser Nachteil möglichst gering gehalten wird.

(1) Urintests auf nicht-sichtbare Hämaturie sollten nach wissenschaftlichen Erkenntnissen grundsätzlich nicht als opportunistisches Screening durchgeführt werden, sondern nur bei anamnestisch-klinischen Gründen.

(2) Es gibt eine physiologische Erythrozyturie: < 1000 Ery/Minute in den Primärurin. Ab 3000 Ery/Minute ist die Mikrohämaturie definiert. Sie wird besser als „nicht-sichtbare Hämaturie“ bezeichnet. Dies entspricht einer Zahl von mind. 2 Ery im Gesichtsfeld (per Mikroskop in mind. 2 von 3 frisch gewonnenen, zentrifugierten Mittelstrahlurinproben) oder mind. 10 Ery/µl Urin. Die untere Nachweisgrenze beim Streifentest liegt unterhalb dieser Grenze, z. B. bei 5 Ery/µl (Gebrauchsanleitung beachten; hier: Combur 9 Test ® cobas ® Roche Diagnostics 2009). Urinstreifentests können daher bereits auch bei der physiologischen Erythrozyturie positiv reagieren.

Literatur

  • Assessment and management of non-visible haematuria in primary care. BMJ. John D Kelly et al. 2009
  • Diagnosis of urothelial carcinoma by the general practitioner – significance of haematuria. Ned Tijdschr Geneeskd. MH Blanker 2009
  • Diagnostic test and algorithmus used in the investigation of haematuria. Systematic reviews and economic evaluation. Health Technology Assessment 2006; Vol 10: number 18. M Rodgers et al. 2006
  • Hematuria. Cleveland Clinic, Center for Continuing Education. Richard Fatica, Adele Fowler 2011
  • How to evaluate “dipstick hematuria”: what to do before you refer. Cleveland Clinic Journal of Medicine. Pravin Kumar Rao, J. Stephen Jones 2008
  • http://www.clinlabnavigator.com/test-Interpretations/urinanalysis.html
  • Microscopic Hematuria. The New England Journal of Medicine. Robert A Cohen, Robert S Brown 2003
  • Patients with new onset haematuria: assessing the discriminant value of clinical information in relation to urological malignancies. British Journal of General Practice. Nicholas Summerton et al. 2002
  • Sugimura K, Ikemoto SI, Kawashima H, Nishisaka N, Kishimoto T. Int J Urol. 2001 Jan; 8(1):1-5. Microscopic hematuria as a screening marker for urinary tract malignancies.


Korrepondenzadresse:

Dr. Armin Mainz
Am Berndorfer Tor 5
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